Ob Tomate, Torte oder Tablette: Alles läuft durch ihn hindurch. Im Laufe eines durchschnittlichen Lebens verarbeitet unser Darm gigantische 30 Tonnen fester und 50.000 Liter flüssiger Stoffe. Doch er ist nicht nur für das gutes Bauchgefühl zuständig: Er beeinflusst auch unser Immunsystem. Er versorgt uns mit Energie. Er unterstützt das Gehirn. Und er hält uns mit einer Armee aus Bakterien gesund.
Doch trotz dieser unglaublichen Leistung bekommt der Darm oft nicht die Beachtung, die er verdient hat. Vielmehr ist es uns häufig unangenehm, über ihn zu sprechen. Stattdessen aber ist sein Einfluss auf unsere Gesundheit und unsere Psyche nicht zu verachten.
Ein Plädoyer für den Allrounder im Stillen:
1. Das Reich der Mitte
Unser Darm ist rund 8 Meter lang mit einer Fläche, die 100mal so groß ist wie unsere Haut. Dabei besteht er aus 10hoch14 Bakterien, die überaus nützlich sind. Jeder von uns trägt eine ganz individuelle Mischung davon mit sich herum, je nach Ernährung oder auch abhängig von den Medikamenten, die wir einnehmen. Seine Keime tragen zur Energieversorgung des Körpers bei. Denn sie liefern Enzyme, mit denen wir Ballaststoffe, also komplexe Kohlenhydrate, abbauen können. Die Abbauprodukte sind dabei verschiedene Zucker, aber auch andere energiereiche Verbindungen wie zum Beispiel die Buttersäure, welche die Entartung von Zellen hemmt und so vermutlich hilft, Darmkrebs vorzubeugen.
2. Das Gehirn im Bauch
Unser Darm hat ein außergewöhnliches Nervensystem, denn seine Nerven sind baugleich zu denen des Gehirns – das ist bei keinem anderen Organ der Fall. Entwicklungsgeschichtlich existierte der Darm schließlich auch vor dem Gehirn, dieses entstand erst viel später. Beim Menschen teilt sich während der embryonalen Entwicklung das Nervengewebe von Kopf und Bauch. Ein Teil der so genannten Neuralleiste wird hierbei vom Kopf umschlossen, während das andere Stück durch die Zellteilung nach und nach in den Bauchraum wandert. Als Verbindung zwischen den beiden Protagonisten dient der Vagusnerv, der größte Nerv des Parasympathikus und einer der drei Musketiere des vegetativen Nervensystems.
Dieses so genannte Bauchgehirn ist die Schaltzentrale im Reich der Mitte: sie prüft alle Substanzen, die den Darm passieren, analysiert ihre Nährstoffzusammensetzung und koordiniert, was der Körper absorbiert und was er ausscheidet; sie checkt ab, ob bekannte Krankheitserreger enthalten sind, steuert die Kontraktionen des Darmmuskels und sorgt dafür, dass für die Verdauung notwendige Enzyme ausgeschüttet werden.
Die verknüpfte Entwicklung zwischen Gehirn und Darm erklärt auch die enge Verbindung der beiden. Stress zum Beispiel kann uns also auf Magen und Darm schlagen: Viele von uns haben das schon leidvoll erfahren. Die Stresshormone steuern nämlich vom Gehirn aus direkt den Darm an. Für den ist das wie eine Vergiftung, er reagiert entsprechend mit Erbrechen oder Durchfall. Wenn uns Emotionen überfluten, zeigt er sich mit dem Gehirn kollegial und reagiert deshalb verstimmt. Und hat unser Gehirn womöglich ein Problem zu lösen, kann der Darm seine Unterstützung signalisieren, indem er sich zurück nimmt. Weil dann keine Energie mehr in die Verdauung geht, folgt die Verstopfung. Dass das Nervenkostüm unseres Darms so empfindlich auf Gefühlszustände reagiert, liegt auch daran, dass in seiner Wand 100 Millionen Nervenzellen sitzen – mehr als in unserem Rückenmark.
3. Der Darm und das Immunsystem
Die Flora unseres Darms hält uns gesund, indem sie verhindert, dass sich krank machende Keime – wie zum Beispiel Durchfallerreger – im Darm vermehren. Eine ausgewogene Bakteriengemeinschaft entwickelt eine immense Schlagkraft und kann offenbar sogar chronisch entzündliche Darmerkrankungen verhindern. Zudem spielt unsere Darmflora eine entscheidende Rolle bei der Reifung und Ausprägung der Immunabwehr. Denn im Darm sitzen 70 Prozent unserer Immunzellen – er ist somit das größte Abwehrorgan unseres Körpers, das durch die Darmbakterien ständig „trainiert“ wird. Blitzschnell entscheidet es, wer Freund oder Feind ist und reagiert entsprechend.
Wie das Gehirn im Kopf ist auch der Darm bei seiner Geburt nicht fertig ausgebildet sondern entwickelt sich weiter. Dabei spezialisiert er sich, je nach individueller Anforderung und Umgebung. Eine ganz wichtige Anpassung des Menschen an seine Umgebung ist die Gewöhnung an Kuhmilch. Sie sicherte den Bewohnern karg bewachsener, kälterer Klimazonen die Deckung ihres Eiweißbedarfs. Voraussetzung für die Milchverdauung ist ein bestimmtes Enzym, die Laktase. In Asien oder Afrika gab es immer genug Nahrung in Form von Pflanzen. Dort wird dieses Enzym nach dem Abstillen der Babys deshalb vom Körper nicht mehr produziert.
4. Der Darm und die Psyche
Nun ist der Darm einer unserer wichtigsten Wohlfühlfaktoren und ein echter Schwerstarbeiter. Und doch ist dieser Gigant ein zickiges Sensibelchen. Die Neurogastroenterologie entdeckte den Grund dafür: Fast alle Substanzen, die im Kopfhirn Steuerfunktionen ausüben, finden sich ebenso im Nervengewebe des Darms. Serotonin zum Beispiel, ein wichtiger Vermittler von Gefühlen, wird sogar zu 90 Prozent im Darm gebildet. Deshalb lassen sich einige Darmerkrankungen, wie zum Beispiel das Reizdarm-Syndrom, mit Antidepressiva positiv beeinflussen. Antidepressiva, die die Psyche beruhigen, stellen nämlich meist auch die Verdauung ruhig. Arzneien, die den Serotoninspiegel und damit die Laune heben, steigern wiederum gleichzeitig die Motorik im Darm. Von diesen Patienten, die über chronische Bauchkrämpfe, Blähungen, Verstopfung oder Durchfall klagen, ohne dass eindeutige organische Ursachen festzustellen sind, haben 40 Prozent auch eine Angststörung oder ein depressives Leiden; sie leiden überdurchschnittlich oft an Migräne und Schlafstörungen.
Neuere Untersuchungen zeigen sogar, dass das Ernährungsverhalten Veränderungen im Darm mit sich bringt und diese Veränderungen wiederum Einfluss auf das psychische Wohlbefinden haben. Mit einer ausgewogenen Ernährung erweisen wir unserem Darm also nicht nur den Respekt, der ihm gebührt, sondern uns selbst auch einen großen Dienst.
Wer mehr über unser Bauchmitte erfahren möchte, dem empfiehlt sich die Lektüre „Darm mit Charme“ der 24-jährigen Medizinstudentin Giulia Enders, die in ihrem Bestseller für mehr Liebe zu diesem ungewöhnlichen Organ plädiert.