Lebensträume

Träume ins Leben bringen – eine Übung in Hingabe, Loslassen und Demut

von Corinna Wittke

Null Uhr und drei Minuten, 3. Juli 2018. Ich schließe das kleine Vorhängeschloss auf, löse die schraddelige Kette und öffne das Einfahrtstor zu unserem neuen Zuhause. Jetzt ist es vollbracht: wir sind wirklich da. Der Umzug Berlin-Italien ist gestemmt!

Ich bin viel zu müde, um euphorische Gedanken zu bewegen. Einfach nur dankbar, dass wir heile angekommen sind, mit all unseren Sachen, und dass ich schon weiß, wo mein Bett steht, in das ich nun einfach hineinschlüpfen darf. Der Mückenchor, der unüberhörbar, fast überall im Haus, oben an den Zimmerdecken, in hoher, nervöser Skala lautstark ein Benevenuti in Italia singt, irritiert noch kurz, dann schlafe ich fest wie ein Stein, so tief wie seit vielen, vielen Monaten nicht mehr.

Es ist geschafft! Wir sind wirklich hier. Der Traum, der schon lange kein Traum mehr war, sondern knochenharte Arbeit, ist wahr geworden.

Ausgeschlafen, hungrig und aufgeregt stromere ich am nächsten Morgen durch unseren Garten, schaue fassungslos in das weich geschwungene Land, in die Weite der fülligen grünen Hügel. Es ist kein Traum! Wir sind jetzt hier, der Lebensschwerpunkt hat sich südlich der Alpen verlegt.

Ort

Wer träumt eigentlich? Wir oder das Leben? Unsere Seele? Und wann beginnt so ein Traum in uns zu keimen?

Wie lange schon bin ich verliebt in diesen Landstrich, in seinen einfachen Charme. Das Piemont, ad pedem montium, am Fuße der Berge. Zuerst waren es, Mitte zwanzig, die Ferienbesuche in Cessole, auf einem Haselnusshof. Dort hatten sich erwachsene Freunde ihren Traum verwirklicht. Immer wieder zog es mich und später uns beide dorthin ins südlichere Piemont. Wir wanderten zu den Sarazener Türmen, genossen den guten Ziegenkäse von Roccaverano, rösteten Haselnüsse über dem mit Weihrauch gewürzten Küchenfeuer – und warteten ungeduldig bis irgendwann, Tage später der Strom endlich wieder kam, nach dem Unwetter. Südliches Piemont. Turin, Alba, Trüffellegenden, bunte Märkte, Schwalben, Blauregen-Düfte, flirrende Hitze und eisiger Regen.

Dann vor sechs Jahren, als der anvisierte Seminarort für die Malarbeit wegbricht, sagt meine Hamburger Seelenfreundin am Telefon: warum fragst du nicht mal im Centro d‘Ompio nach, das ist ein wunderbarer Platz für Gruppenarbeit. Ich habe keine Ahnung wo das ist, aber ich folge diesem Rat und siehe da, eine Seminargruppe ist ausgefallen und meine damalige Kollegin und ich, wir können dort unser kreatives Ferienseminar anbieten. Noch nie wurde an diesem Ort gemalt. Nun fügt sich eines zum anderen und wir stehen im achteckigen Pavillon, atemberaubend schön, lichtdurchflutet und mitten in einem grünen Bambusdschungel. Die Wände werden abgeklebt, der Raum vorbereitet und die erste Gruppe kann beginnen.

Und so kam zum südlichen Piemont das nördliche hinzu, zeigte sich mit seinen schneebedeckten Bergriesen, mit dem tintenblau schimmernden Ortasee, mit seinem immer wieder wechselnden Licht, das die innere Weite einlädt, den Herzschlag zur Leichtigkeit auffordert, und das Schauen erfrischt. Es gab nie Zeit sich auch privat umzusehen, das Land zu erkunden. Ich arbeitete, danach ging es wieder nach Berlin, oder manchmal noch in die Ferien nach Cessole. Doch währenddessen fraß sich heimlich die Spur der Liebe zu diesem Landstrich immer weiter in mein Herz.

alpen

Das Leben schubst, wir folgen…

Als sich dann der Leiter des Centro d‘Ompio vor eineinhalb Jahren unter meinen Arm hakte und fragte, ob er nicht mal einen Dritten ins Feld stellen sollte, der sich mit uns beiden, meinem Lieblingsschweizer, der mein Mann ist, und mir an einen Tisch setzen würde, um einen Gedankensturm zu entfachen, wie wir unser Leben ganz hier am Ortasee leben könnten, wollte ich nicht JA sagen. Ich wollte NEIN sagen, ganz felsenfest. NEIN, das passte jetzt gar nicht in mein Leben. Wirklich nicht. Es war schön hier zu sein und jedes Jahr wiederzukommen und ja, es fiel uns immer schwerer, wieder zurück nach Berlin zu gehen – aber wer kennt das nicht: freiwillig zurückzukehren aus der ausnahmsweisen Weite in das überbrodelnde alltägliche Großstadtleben, das ist nie einfach. Doch mein Lebensherz pochte in Berlin. Hier hatte ich mein Atelier und gerade viel investiert, um neue Galerieräume für die künstlerische Arbeit, für Ausstellungen und die Seminararbeit ins Leben zu bringen – auch ein tiefer Traum. Ja, eines Tages würde ich sicher liebend gern dazu bereit sein, und meine eigene Sehnsucht nach Erde unter den Füßen stillen, aber doch nicht jetzt. Ich hätte einfach NEIN sagen können und es meinem Mann verschweigen können, dieses aufrührerische Angebot.

Lebensträume zu verwirklichen heißt loszulassen, was du bisher über dich und die Welt gedacht hast

Aber ich sagte nicht NEIN. Ich sagte JA. Und ich wusste gleichzeitig, es würde hart werden für mich, das, was jetzt ins Rollen kommen würde. Doch es gab da ein Lächeln in mir, das stärker war. Das Tischgespräch mit dem Dritten, jenem Advocatus diaboli setzte lawinenartige Energien frei. Unsere Ehe, unser bisheriges eingespieltes Leben wurde völlig auf den Kopf gestellt. Lebensentwürfe prallten gegen Lebensentwürfe und alte Enttäuschungswunden brachen auf.

Und doch summte mir meine innere Stimme durch all die emotionalen Orkanböen hindurch unablässig den Mut zu, klar hinzuschauen und diese reinigende erneuernde Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen, nur weil sie meine Gefühle in verzweifeltes Kochen brachte. Viele meiner bisherigen Lebenskonzepte, meiner Vorstellungen, was richtig für mich sei, woran ich festhalten müsse, bröselten in diesem Prozess in sich zusammen.

Eine ungeahnte Kraft

Zeitgleich kristallisierte sich heraus, was mir wirklich wichtig war, wofür ich gehen würde, auch wenn ich alleine gehen müsste und augenblicklich änderte sich etwas in meinem Leben: es schälte sich eine neue Kraft heraus, eine Kraft, von der ich nicht hätte träumen können, weil ich sie für unmöglich gehalten hätte. In mir wuchs eine Stärke, die nichts zu tun hatte mit dem eisernen Willen, mit dem ich bisweilen an meinen Vorstellungen geackert hatte.

Es fühlte sich an, als hätte ich mich endlich zweifelsfrei entschlossen, für mich, meine Arbeit, meine innere Herzschlagführung loszugehen, ohne mich von irgendetwas oder irgendjemand ablenken zu lassen und ohne zu wissen, wie. Einhergehend mit dieser neuen Stärke, gewann ich Vertrauen in das Leben und mich. Die Dinge begannen sich freier und frischer zu entwickeln, als ich es je hätte ahnen können.

Zukunftsträume sind aufschiebbar – das Leben und seine Träume nicht

Immer deutlicher zeigte sich, dass ich ein JA zu unserem gemeinsamen Italienprojekt nur kombiniert mit einem JA für meine Arbeit und meinem Berliner Atelier finden würde. Und so begannen sich die Dinge zu entwickeln. Mir wurde immer klarer, dass jetzt der Zeitpunkt war, es zu realisieren und auf nichts mehr zu warten, weder auf eine bessere Finanzlage bezüglich meiner Arbeit, noch auf die Altersweisheit. Das Leben hatte uns jetzt diese Aufgabe vor die Füße gelegt. Sie war unverschiebbar. Wir nahmen sie an. Nur eine Stunde fuhren wir mit dem Auto durch die besonnte Gegend des Ortasees, da standen wir vor einem Haus, mit dem Schild vendesi – zu verkaufen. Am nächsten Tag trafen wir uns mit den Eigentümern und drei Monate später unterschrieb ich den Vorvertrag. Incredibile – unglaublich, nie hätte ich das für möglich gehalten. Aufgrund Länder spezifischer Auflagen, durfte nur ich als EU-Bürgerin kaufen. Schon wieder schubste mich das Leben in eine Position, die ich noch vor kurzem kategorisch abgelehnt hätte – und viele weitere solcher Herausforderungen sollten noch folgen.

Doch in dem Moment, wo ich diesen Vorvertrag unterschrieben hatte, fiel alle Angst von mir ab. Es fühlte sich einfach nur richtig, schwungvoll und frei an. Wer hätte das gedacht!

Zukunftsvisionen

Herausforderungen wo du nur hinschaust

Viele schier unüberwindliche Herausforderungen haben seither unseren Weg gekreuzt. Oft sah es aus, als würde der inzwischen auch von meinen sehnsüchtigen Gefühlen aufgeladene Traum scheitern. Auch, dass wir das Gelingen nicht forcieren konnten, dass es Geduld und immer wieder ein großes Loslassen brauchte, war unübersehbar, doch nicht einfach, dies innerlich zu realisieren. Die Träume ins Leben zu bringen kann eine knochenharte Arbeit, ein Marathonlauf, ein körperlich-emotionaler Sprint über deine Grenzen hinaus sein, doch ohne die Zähne zusammenzubeißen. Ohne dieses ich will aberes muss… Es ist ein erstaunliches Training in die eigene Kraft hinein. Es ist ein Durchhalten, ohne Härte, ein Stemmen ohne Überwindung.

Und dann wieder ein Zusehen, wie es bisweilen auch völlig ohne Anstrengung gelingt. Wie das Hinaufradeln eines Berges, schwitzend, mit brennenden Muskeln und dann die kühle Luft, die danach über deine Haut streicht, wenn du wie von alleine wieder ins nächste Tal rollst. Mal gibt es Gegenwind und wenn du dann nicht aufgibst, sondern die Ruhe hast abzuwarten, oder langsam in deiner Kraft wachsend in diesen Widerstand hineinzugehen, wechselt plötzlich die universelle Kraft ihre Richtung, und Rückenwind bläst dich vorwärts.

Eingebettet in Dankbarkeit und Demut

Schnell wurde klar: nur wir zwei konnten dieses Projekt gar nicht in die Welt heben, dazu fehlte es uns in jeder Hinsicht an Ressourcen. Doch desto weniger wir die Angst nährten, es nicht zu schaffen, sondern in das Staunen gelangten, wie das Leben sich entfalten würde, tauchten Lösungen auf. Hilfe wurde uns angeboten. Das reichte vom wichtigsten finanziellen Darlehen bis zur unermüdlich tatkräftigen Renovierhand, beratend, verhandelnd, ermutigend. Und dann als der Umzug konkret nahte, wurden wir beschenkt mit so unglaublicher Unterstützung, dass wir uns immer wieder ansahen und dankbar mit den Köpfen und Herzen nickten – ja, alleine hätten wir das niemals geschafft. Erst im Beisein freundlich helfender Hände konnte ich meine innere Kraft wieder so bündeln, dass ich mühelos hunderte Male schwer bepackt mit Aussortiertem fünf Stockwerke ohne Aufzug hin- und hertraben konnte, mit der alten Terrassenerde, mit zu Verschenkendem, mit Müll, mit allem was da so bewegt werden musste nach 11 Lebensjahren in einer großen Berliner Wohnung.

Chaos

Die wahren tiefen Lebensträume können wir nicht alleine ins Leben bringen. Das geht nur gemeinsam. Das geht nur eingebettet in die Dankbarkeit und Demut, für all die Hilfe und Unterstützung die ständig zu uns strömt. Der Einzelkampf endet hier. Und das ist wichtig. Denn der Einzelkampf bleibt verhaftet in das ich will, das uns früher oder später gegen die Wand fahren lässt.

Und diese Demut trägt uns weiter in diesen zauberhaften Ort, der nur dazu geschaffen ist, für uns alle da zusein, für all die Menschen, die ihn schätzen und mitgestalten werden.

Felice, felice – glücklich

Wenn wir träumen, suchen wir meist nach den verlorenen Paradieslücken. Nach unendlichem Glück und Erfolg, Gesundheit, Liebe, Reichtum, schönen südlichen Landschaften – nach wer weiß was? Wenn dem so ist werden wir garantiert enttäuscht werden, weil sich diese Art von Glück nicht einstellen wird, oder nach kurzem euphorischem Aufwallen, wieder erlöschen wird wie ein unterernährtes Feuer.

Die Wunschbestellbücherliste ist groß und mir persönlich unheimlich. Wissen wir, was wir uns wünschen, was das wirklich bedeutet? Was für Konsequenzen das hat, und ob es überhaupt gut für uns sein wird? Wenn das Leben ruft und dir einen tiefen Lebenstraum vor die Füße legt, wenn du JA sagst, musst du dazu stehen, wie im alten Ehegelübde, in guten wie in schlechten Tagen… Mit Wunschbestellungen hat das nichts zu tun, es liegt fernab vom „spirituellen Kuhhandel“. Auch südlich der Alpen brechen meine Zahnkronen ab, gibt es Serverprobleme, werden meine Herzohren mit schweren Geschichten aus einheimischen Mündern beladen… ja, all dies gleich am ersten Tag des neuen Lebenstraums.

Darum ist dies das Wichtigste: Es geht nicht um diese Idee, glücklicher zu sein in dem neuen Beruf, in der neuen Liebe, in der neuen Landschaft, es geht darum, dem Leben zu folgen in die eigene Herzweite hinein und von dort aus mit einer neuen Kraft, die sich genau aus dieser Wandlung generiert, anders in die Welt zu schauen. Stiller, genügsamer und ja auch glücklicher, weil diese Kraft ohne Absicht, ohne den eisernen Willen, weil diese Kraft der Hingabe und Demut an das Leben und an dessen Träume uns zu uns selbst hin stellt und stärkt.

unser-neues-Haus

Unsere Netzwerkpartnerin Corinna Wittke arbeitet als Künstlerin, Autorin und Seminarleiterin in Berlin, München und Italien. Informationen und Angebote zu ihrer Arbeit finden Sie unter www.schule-der-elefantasie.de und www.corinnawittke.de

Partner: Wittke, Corinna
5. Juli 2018

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